[1] Eine emanzipierte Prinzessin aus Alexandrien, 50 verdutzte Philosophen und einer der wusste, wie man private Altersvorsorge beitreibt

 

Die schönsten Geschichten schreibt das Leben – dieser Spruch ist keinesfalls so klischeehaft, wie er sich im ersten Augenblick anhört. Im Gegenteil, denn gerade im Alltag übersehen wir oft, wieviel Leben und Geschichte uns in jedem Augenblick und auf jedem Weg – selbst auf dem Weg zur Arbeit – umgibt.

Die weiße Installation aus Koffern an der Ecke Rathausstraße und Kleine Johannisstraße zieht den Blick auf sich, stellt einen Bruch dar im Stadtbild. Gleichzeitig ist sie Sinnbild für all die Erinnerungen und Erzählungen, die es links und rechts der Alltagsroutine und vor allem über unseren Köpfen zu entdecken gibt, die angestaubt auf den Dachböden der Geschichte schlummern. Sie zu öffnen und den Blick über den Tellerrand des scheinbar Bekannten hinauszuwerfen lohnt – gerade das sogenannte Katharinenviertel zwischen Hauptkirche St. Katharinen und Rathausmarkt ist bis zum Bersten gefüllt mit Jahrhunderten gelebten Lebens, steckt voller Geschichten, die für Überraschungen sorgen.

Schon der Name „Katharinenviertel“ wird maßgeblich unterschätzt. Nicht nur hat die Heilige Katharina unzählige Namensvetterinnen, denn der Name, der schon im Mittelalter sehr beliebt war, ist in den Hitlisten der Mädchenvornamen seit 1890 lückenlos vertreten (1)

- auch Heilige Katharinas gibt es mehr als ein halbes Dutzend. Diejenige, die dem Katharinenviertel seinen Namen gab, soll eine Prinzessin aus Alexandria gewesen sein, die vermutlich im dritten Jahrhundert nach Christus auf Zypern geboren wurde und 307 in Alexandria starb. Klug, mutig und schön soll sie gewesen sein. Darüber hinaus war sie durchaus emanzipiert: Heiraten kam für sie nicht in Frage, die Herren, die zuhauf um ihre Hand anhielten, entsprachen ihren Vorstellungen nicht. Stattdessen ließ Katharina sich taufen und diskutierte jeden, der ihr ihren Glauben streitig machen wollte, in Grund und Boden. 50 Philosophen soll der heidnische Kaiser Maxentius gegen sie in einen Debattier-Kampf geschickt haben. Am Ende mussten die weisen Männer gegen die Argumente der Power-Frau die sprachlichen Waffen strecken und sich selbst taufen lassen, wofür sie vom zornschäumenden Kaiser verbannt wurden. Der Katharina wiederum heiraten wollte – den schlauen Feind holt man am besten ins eigene Lager (oder in diesem Fall ins eigene Bett). Die Heilige lehnte dankend ab, worauf sie ausgepeitscht und ins Gefängnis geworfen wurde. Nachdem sie dort nebenbei noch die Wachmannschaft bekehrt haben soll – ob aus Langeweile oder missionarischem Eifer ist nicht überliefert – versuchte man erfolglos sie ins Jenseits zu befördern. Das „Rädern“ und Vierteilen scheiterten an Wundern, zu guter Letzt wurde sie enthauptet. (2)

Foto: Michael Zapf: in Rita Bake, Birgit Kiupel: Einsichten. Von realen und idealen Frauen im Hamburger Rathaus, Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 2016, S.12

Einen Eindruck von Katharinas Schönheit kann man gewinnen, wenn man sich um die eigene Achse dreht. Auf dem Giebel des Risalits, also des seitlich vorspringenden Teils des Rathauses, der uns und der Katharinenkirche am nächsten ist, steht sie mit einem Palmwedel in der rechten Hand, dem Attribut der Märtyrer als Zeichen des Sieges und des ewigen Lebens.  Den linken Arm streckt sie mit geöffneter Hand Richtung Innenstadt. Kirche und Katharinenfigur bilden damit eine Klammer, die das Katharinenviertel geographisch umfasst. Die wallenden Gewänder der Katharinen-Skulptur, die vom Bildhauer Alois Denoth (1851 – 1893) geschaffen wurde, (3) flattern hinter ihr her, sicherlich weht dort oben, über all dem Trubel, eine steife Brise. Unten dagegen tobt normalerweise das pralle Leben – drei Monate lang sieht man jedoch, aufgrund der temporären Fußgängerzone, vieles, was sich sonst aufgrund parkender Autos dem Blick entzieht bzw. was im Alltagstrubel untergeht. Allein das Straßenschild springt dem aufmerksamen Betrachter plötzlich ungewohnt offensichtlich ins Auge: Kleine Johannisstraße. Wo etwas explizit formuliertes Kleines ist muss es eigentlich auch etwas Großes als Pendant geben. Und richtig, die große Version verläuft als Verlängerung der Mönckebergstraße bogenförmig quasi parallel. Beide schulden ihren Namen dem Kloster, das es hier einmal gab. 1227 wurde es von Graf Adolf IV. erbaut, kurze Zeit später trat er selbst ein. Auch so kann die private Altersvorsorge aussehen. Neben dem Kloster lag die St. Johanniskirche, die eines der schönsten Bauwerke des Mittelalters gewesen sein soll. Kirche und Kloster mussten Anfang des 19. Jahrhunderts wegen starker Baufälligkeit abgerissen werden und machten Platz für die charakteristischen Kontorhäuser, die das Viertel noch heute größtenteils prägen. (4)

Ein besonders imposantes Gebäude ist der Johannishof mit der Hausnummer 4, der rechter Hand das zweite Haus ist. Das 1902 mit Sandsteinfassaden im gotischen Stil errichtete Gebäude erinnert einen irgendwie... kommt einem seltsam bekannt vor.... ja richtig, es könnte die kleine Schwester des imposanten Rathauses sein. (5) Dies ist tatsächlich kein Zufall, denn die beiden verantwortlichen Architekten Meerwein und Hanssen hatten auch dort als zwei der sieben „Rathausbaumeister“ mitgewirkt. (6) Der Rathausmarkthof war der erste Neubau in unmittelbarer Nähe des Rathauses und mit dem neusten Hot Shit ausgestattet – man könnte ihn durchaus als smart home des 19. Jahrhunderts bezeichnen. In der aufwendig gestalteten Vermietungsanzeige der Firma Hanssen & Studt., einer auf Kaffee spezialisierten Lager- und Handelsfirma und Eigentümerin des Rathausmarkthofes wird mit „Paternoster-Personenfahrstuhl, Centralheizung (in jedem Raum regulierbar), Anlage für elektrisches Licht“ und sogar „moderne[n] Toilette- und Wasserleitungs-Anlagen“ geworben. Selbstgestalteter Arbeitsraum ist ebenfalls möglich. „Die innere Einteilung der einzelnen Stockwerke kann ganz nach Wunsch der betreffenden Mieter ausgeführt werden.“ Nach oben hin werden die Quadratmeterpreise günstiger – die Aussicht scheint damals noch umsonst gewesen zu sein.


Foto: Archivmaterial des Denkmalschutzamtes Hamburg.

Rätsel gibt die weibliche Figur links des Eingangs auf, die von einem kleinen Baldachin bekrönt wird. In einem Gutachten aus dem Jahr 1988 hält sie Saatkörbe in den Händen während sie auf einem Foto aus dem Jahr 1977 noch als Tee-Mädchen bezeichnet wird. Beachtet man die Tatsache, dass der Bauherr auf den Kaffee-Handel spezialisiert war, könnte man sich nun natürlich ganz weit aus dem Fenster lehnen und die Hypothese aufstellen, dass sich in den Körben Kaffeebohnen befinden könnten... aber nichts Genaues weiß man nicht, die Dame blickt schweigend von oben herab und lässt dem Beschauer alle Freiheiten, sich Biografien und Geschichten auszudenken...


Foto: Archivmaterial des Denkmalschutzamtes Hamburg.


(2) https://www.heiligenlexikon.de/BiographienK/Katharina_von_Alexandria.htm (28.9.19)

(3) Rita Bake, Birgit Kiupel: Einsichten. Von realen und idealen Frauen im Hamburger Rathaus, Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 2016, S.12.

(4) Informationen aus dem Archivmaterial des Amts für Denkmalschutz, Hamburg.

(5) Ralf Lange: Das Hamburger Kontorhaus – Architektur, Geschichte, Denkmal, München 2015.

(6) Informationen aus dem Archivmaterial des Amts für Denkmalschutz, Hamburg.

künstler: arne lösekann http://www.arneloesekann.de

text und recherche:  anne simone krüger http://annesimonekrueger.de

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